Eingeborenenrecht. 1. Begriff des E.s. 2. Allgemeines. 3. E. in den
Schutzgebieten Afrikas und der Südsee. 4. E. in Kiautschou.
1. Begriff des E.s. Der Begriff E. wird in verschiedenem Sinne verstanden.
Ethnologisch pflegt man darunter das von der Eingeborenenbevölkerung der
Kolonialländer erzeugte. Recht (Stammesrecht), insbesondere das auf Gewohnheit
beruhende Recht zu verstehen, ohne Rücksicht darauf, inwieweit es von der
Staatsgewalt als ein wirklich maßgebendes, obrigkeitlich zu schützendes
anerkannt wird. Juristisch kommt dieses Recht nur insoweit in Betracht, als ihm
von der Gesetzgebung oder in der Praxis der
Gerichte und Verwaltungsbehörden verbindliche Kraft beigemessen wird. Außerdem
tritt noch das mit Wirkung für die Eingeborenen von der Gesetzgebung des
Kolonialstaates geschaffene Recht hinzu.
Juristisch ist daher unter E. der deutschen
Schutzgebiete die Gesamtheit der für die
Eingeborenen im Rechtssinne dort geltenden
Rechtssätze zu verstehen. Im weitesten Sinne
des Begriffes E. Fallen darunter auch solche
Rechtsnormen, welche dem Völkerrecht oder
Staatsrecht angehören. Hier gehören z. B. die
Festsetzungen der Brüsseler Generalakte vom
2. Juli 1890 über die Behandlung freigewordener
oder flüchtiger Sklaven (s. Brüsseler
Konferenz und Sklaverei), sowie über die
Verhütung
des Mißbrauchs der Spirituosen bei
den Eingeborenen (s. Alkohol), die Vorschriften
über die Führung der Reichsflagge durch
Eingeborene, über den Erwerb der
Reichsangehörigkeit oder einer
Schutzgebietsangehörigkeit
durch solche, die für die
Eingeborenen
erlassenen verwaltungsrechtlichen Verordnungen,
die Vorschriften über die Besteuerung
der Eingeborenen (s. Eingeborenensteuern),
sowie endlich die Stammes- und Dorfverfassung
der eingeborenen Völkerschaften, soweit ihr
staatlicherseits Anerkennung zuteil wird.
Gemeinhin werden indes unter E. nur diejenigen
Rechtssätze begriffen, welche die Ordnung
des Gerichtswesens, das gerichtliche
Verfahren sowie das bürgerliche und
StrafRecht der Eingeborenen
betreffen. Noch
enger verstanden bezeichnet E. das materielle
bürgerliche und Strafrecht der Eingeborenen
im Gegensatz zu den die Gerichtsbarkeit über
Eingeborene betreffenden Normen (so z. B. in
§ 1 Nr. 2 der Ksl. V. vom 3. Juni 1908, RGBl.
S. 397). - Im nachstehenden ist das gesamte
für die Handhabung der Gerichtsbarkeit über
Eingeborene in Betracht kommende Recht
(einschl. des materiellen Rechts) dargestellt.
Nicht berücksichtigt sind indes diejenigen
besonderen Rechtsgrundsätze, welche zur
Anwendung kommen, wenn Eingeborene zu
Weißen in rechtliche Beziehungen treten oder
mit diesen zugleich an einem gerichtlichen Verfahren
beteiligt sind (Fälle des sog. gemischten Rechts und
der gemischten Gerichtsbarkeit). S. Gemischte
Gerichtsbarkeit und
Gemischtes Recht.
2. Allgemeines. Das Schutzgebietsgesetz (SchGG.) geht davon
aus, daß die eingeborene Bevölkerung in den Schutzgebieten in Anbetracht ihres
geringen Kulturzustandes im allgemeinen noch nicht reif ist, rechtlich mit den
Europäern. auf eine Stufe gestellt zu werden, und daß es ferner
kolonialpolitisch richtig ist, nach Möglichkeit die angestammten Sitten und
hergebrachten Rechtsanschauungen der
Eingeborenen zu schonen. Wie § 4 SchGG. vorsieht, unterliegen deshalb die
Eingeborenen (in Betracht kommen in Deutsch - Ostafrika Suaheli, Neger der Bantustämme; in Kamerun und Togo Bantuneger, Sudanneger und hamitische Elemente, wie Haussa und Fulbe; in
Deutsch - Südwestafrika Herero, Ovambo, Hottentotten, Bergdamara, Buschmänner und Bastardstämme; in der Südsee Papuas, Melanesier, Mikronesier, Polynesier; in Kiautschou Chinesen [s. d. betr. Artikel]) der für die weiße
Bevölkerung eingeführten Gerichtsbarkeit
sowie dem für diese auf den Gebieten des bürgerlichen Rechts, Strafrechts und
gerichtlichen Verfahrens maßgebenden Recht nur insoweit, als dies durch Ksl.
Verordnung bestimmt wird. Das gleiche gilt nach § 7 Abs. 3 SchGG. in betreff des
Personenstands- und Eheschließungsrechts. Den Eingeborenen, also den Angehörigen
der eingesessenen farbigen Stämme, sind die
Angehörigen fremder farbiger Stämme (Araber, Inder, Afghanen, Malaien usw.), zu denen indes Japaner nicht
gerechnet werden, gleichgestellt (§ 2 Satz 1 Ksl. V., betr. die
Rechtsverhältnisse in den deutschen Schutzgebieten vom 9. Nov. 1900, RGBl. S.
1005), soweit sie nicht entweder nach völkerrechtlichen Grundsätzen (als
Reichsangehörige, z. B. auf Grund einer Verleihung gemäß § 33 des Reichs- und
Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22. Juli 1913, RGBl. S. 583, oder als diesen
kraft völkerrechtlicher Verträge oder Herkommens gleichstehende Angehörige
zivilisierter Staaten, vgl. RT. 1885/86 Drucks. Nr. 201, StenB. Anl. [Bd., 90]
S. 993) oder auf Grund von Sonderbestimmungen (Goanesen, Parsen.
GouvV. vom 3. Okt. 1904, KolBl. S. 749; nicht mohammedanische Syrer, GouvV. vom 10. Juni 1910, Amtl. Anz. f. DOA.
Nr. 20; Farbige ostafrikanische Landesangehörige
mit Nichteingeboreneneigenschaft: Ksl. V. vom 24. Okt. 1903, KolBl. S. 573;
Chinesen in Samoa: GouvV. vom 6. Jan. 1912, KolBl.
S. 246) ausnahmsweise als Nichteingeborene zu behandeln sind. - Vorschriften,
welche die Eingeborenen dem für die Weißen geltenden Recht unterwerfen, sind nur
vereinzelt ergangen (vgl. z. B. auf dem Gebiete des Grundstücksrechts § 6 Abs. 1
Nr. 2 der Ksl. V. vom 21. Nov. 1902, RGBl. S. 283; KolBl. S. 563). Die
eingeborene Bevölkerung in den deutschen Schutzgebieten lebt daher im
allgemeinen unter einer besonderen Rechtsordnung. - Die Regelung des E. steht
dem Kaiser kraft der ihm durch § 1 SchGG.
übertragenen Schutzgewalt zu. Bei der
Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen Schutzgebieten und ihrem
durch die fortschreitende Erschließung der Schutzgebiete bedingten raschen
Wandel hat es sich als. zweckmäßig erwiesen, einstweilen seine Fortbildung in
der Hauptsache den Verwaltungsbehörden zu überlassen und diese durch
entsprechende Delegationen hierzu instand zu setzen.
3. E. in den Schutzgebieten Afrikas und der Südsee. Durch eine Ksl. V.
vom 3. Juni 1908 (RGBl. S. 397) sind bis auf weiteres der Reichskanzler und mit seiner Ermächtigung
oder
Zustimmung auch die Gouverneure für befugt erklärt worden, Vorschriften
und Anordnungen in betreff des E. und der Gerichtsbarkeit über
Eingeborene
zu erlassen. Diese Verordnung, welche die entsprechenden früher für
einzelne
Schutzgebiete erlassenen Ksl. Verordnungen aufgehoben, indes die
bestehenden,
auf dem Gebiete des E. ergangenen Verordnungen und Vorschriften aufrecht
erhalten hat, auch soweit sie von den obersten Beamten der Schutzgebiete
(Gouverneuren usw.) ohne ausdrückliche Ermächtigung erlassen waren, ist
nunmehr in den afrikanischen und Südseeschutzgebieten für die
gesetzliche
Ordnung des E. grundlegend. Eine erschöpfende Regelung des E. hat sich
selbst in den einzelnen Schutzgebieten bisher als untunlich erwiesen.
Im Verordnungswege ist nur da eingegriffen worden, wo hierfür ein
besonderes
Bedürfnis vorlag, um im übrigen der Praxis freie Hand zu lassen. -
Verhältnismäßig
die meisten Vorschriften finden sich auf dem Gebiete der
Strafrechtspflege,
wo es sich als nötig erwies, die Rechtsprechung mit gewissen Garantien
zugunsten der Eingeborenen zu umgeben. Hier besteht auch, wenigstens f
ür die afrikanischen Schutzgebiete, in der Hauptsache gemeinsames Recht.
Vereinzelt sind auch Vorschriften zur Regelung der Zivilrechtspflege
erlassen,
insbesondere solche, welche das Verfahren in Sachen der streitigen und
freiwilligen Gerichtsbarkeit betreffen. In Betracht kommen an
Vorschriften
über die Eingeborenenrechtspflege namentlich: die V. des RK., betr. die
Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen
Schutzgebieten
vom 27. Febr. 1896 (KolBl. 1896 Beil. zu Nr. 5); die V. des RK. wegen
Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber
den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten Deutsch - Ostafrika,
Kamerun und Togo vom 22. April 1896 (KolBl. S.
241),
welche durch eine V. vom 8. Nov. 1896 (KolGG. Bd. 2 S. 294) auch auf
Deutsch
- Südwestafrika ausgedehnt worden ist; die V. des Gouverneurs von
Deutsch
- Ostafrika, betr. die Bestrafung von Eingeborenen wegen Kontraktbruchs
vom 7. Dez. 1909 (KolBl. 1910 S. 118; Amtl. Anz. Nr. 48); die noch für
die Zivilgerichtsbarkeit maßgebende V. des
Gouverneurs von Deutsch - Ostafrika, betr. die Gerichtsbarkeit usw. der
Bezirkshauptleute, vom 14. Mai 1891 (KolGG. Bd. 6 S. 83); die V.
desselben
Gouverneurs vom 23. Sept. 1893 (KolBl. S. 486), betr. die Errichtung von
Rechtsgeschäften Farbiger, und 4. Nov. 1893/1. Sept. 1896 (nebst
späteren
Ergänzungen), betr. die Regelung von Nachlässen Farbiger (KolBl. 1894
S. 41 und LGG. S. 386); eine Reihe von V. des Gouverneurs von Kamerun,
betr. die Eingeborenen - Schiedsgerichte (KolGG. Bd. 1 S. 251, Bd. 2 S.
130 usw.); die Strafverordnung der Neuguinea
- Kompagnie für die Eingeborenen vom 21. Okt. 1888 (KolGG. Bd. 1 S. 555)
mit späteren Änderungen (GouvV. vom 7. April 1899, KolBl. S. 482, und
V. des RK. vom 28. Okt. 1908, KolBl. S. 1087); die gleichlautende
Strafverordnung
des RK. für die Marshallinseln v. 10. März 1890 (KolGG. Bd.
1 S. 627 mit Änderung durch die V. des RK. vom 28. Okt. 1908); die
GouvV.,
betr. die Rechtsverhältnisse auf Samoa, vom 1. März 1900 (KolBl. S.
312);
die GouvV., betr. die Land- und Namensstreitigkeiten der Samoaner vom 15. Juli 1913, nebst Ausführungs -V.
vom 6. Aug. 1913 (GouvBl. Bd. IV S. 209 bzw. 221). - Der Rechtszustand,
wie er sich hiernach für die afrikanischen und Südseeschutzgebiete gestaltet, ist
in großen Zügen folgender: Die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen
(Zivilgerichtsbarkeit,
Strafgerichtsbarkeit und Freiwillige Gerichtsbarkeit) liegt nach den
bestehenden
Vorschriften oder auf Grund Herkommens in der Hauptsache in den Händen
der Leiter der Verwaltungsbezirke (Bezirksamtmänner, Distriktschefs, Stationsleiter usw.). Auf Expeditionen wird die Strafgewalt in den
afrikanischen
Schutzgebieten von den Expeditionsführern ausgeübt. Die zuständigen
Beamten
können dort ihre Befugnisse auch an ihnen unterstellte Beamte für deren
Amtsbezirke, also z. B. die Vorsteher von Bezirksnebenstellen, unter eigener
Verantwortung
übertragen. In Deutsch - Neuguinea (altes Schutzgebiet und
Marshallinseln)
sind für Strafsachen Stationsgerichte zuständig, welche aus einem vom
Gouverneur ernannten
Verwaltungsbeamten
als Vorsteher und einem Gerichtsschreiber bestehen. Bei Verhandlungen
über schwerere Verbrechen sind noch zwei Beisitzer hinzuzuziehen. In Samoa ist für gewisse
Streitigkeiten (über Grundstücke) sowie Strafsachen (die Verbrechen und
Vergehen gegen Weiße betreffen) der Bezirksrichter
zuständig. In Sachen der freiwilligen und streitigen Gerichtsbarkeit in
Land-, Namensund ähnlichen Angelegenheiten des samoanisehen Immobiliar-,
Familien- und Erbrechts ist auch der Gouverneur berechtigt, die
Verhandlung
und Entscheidung zu übernehmen oder seine Befugnis an eine Kommission
zu übertragen, die aus dem Gouverneur oder einem von ihm bestimmten
Beamten
als Vorsitzenden und einer Anzahl vom Gouverneur ernannter weißer und
samoanischer Beisitzer besteht. - Neben der Gerichtsbarkeit der
Verwaltungsbehörden
findet sich vielfach noch eine solche der Eingeborenenhäuptlinge, denen
kraft Herkommens die Schlichtung geringfügiger Streitigkeiten überlassen
wird, so z. B. in Togo und im Inselgebiet von Deutsch - Neuguinea. Auf
Samoa werden die nicht zur Zuständigkeit der weißen Beamten gehörenden
Sachen von eingeborenen Richtern (Faamasino) entschieden. In den
Residenturbezirken
in Deutsch - Ostafrika und Kamerun wird die Ausübung der Gerichtsbarkeit
gegenüber der eingesessenen Bevölkerung im allgemeinen: den
Stammesherrschern
und den bestehenden Eingeborenengerichten ganz überlassen. Nur
Straffälle
politischen Charakters u. dgl., sowie Straftaten der farbigen
Angestellten
werden von den Residenten selbst abgeurteilt. In Kamerun sind
außerdem noch im Verordnungswege für e ine Reihe von Stämmen den
Küstenbezirken
für minder bedeutende in Sachen besondere Häuptlings- und Eingeborenen
- Schiedsgerichte eingesetzt (s. Eingeborenenschiedsgerichte).
Endlich üben in Deutsch - Südwestafrika
noch einzelne Kapitäne der
Bersebaleute
und Bastards eine Gerichtsbarkeit über ihre Stammesleute auf Grund der
seinerzeit abgeschlossenen Schutzverträge
aus. Im übrigen wird, soweit die Gerichtsbarkeit weißen Beamten
übertragen
ist, tunlichst darauf Bedacht genommen, farbige Elemente wenigstens als
Beisitzer zur Mitwirkung heranzuziehen. So ist für die afrikanischen
Schutzgebiete
vorgeschrieben, daß bei Strafverhandlungen, die vor den
Bezirksamtmännern
usw. stattfinden, die Walis, Jumben oder Dorfältesten (bzw. Kapitäne in
Deutsch-Südwestafrika) und bei schwereren Verbrechen mehrere angesehene
Eingeborene mit beratender Stimme hinzuzuziehen sind. Entsprechende
Vorschriften
bestehen für die Verhandlungen von bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten in
Deutsch - Ostafrika, und für Nachlaßsachen sind dort zur Unterstützung
der Bezirksamtmänner Kommissionen gebildet, die sich aus Eingeborenen
der verschiedenen Sekten usw. zusammensetzen. -Die
Gerichtsverhandlungen
(in Deutsch-Ostafrika "Schauri", in den westafrikanischen Kolonien "Palaver"
genannt) pflegen öffentlich und in Anwesenheit der Parteien
stattzufinden.
Das Verfahren (s. Bürgerliches
Recht, Strafverfahren, Freiwillige
Gerichtsbarkeit) ist nur in wenigen Beziehungen geregelt.
Verhältnismäßig
die ausführlichsten Vorschriften (über Untersuchungshaft, Gang der
Verhandlung,
Verteidigung, Beweisaufnahme, Form des Urteils und Protokolls) enthält
die Strafverordnung der Neuguinea - Kompagnie vom 21. Okt 1888. Für die
afrikanischen Schutzgebiete ist (durch die RKV. vom 27. Febr. 1896)
vorgeschrieben,
daß zur Herbeiführung. von Geständnissen und Aussagen andere als die in
den deutschen Prozeßordnungen
zugelassenen Maßnahmen untersagt sind. Die Urteile sind dort (nach der
V. des RK. vom 22. April 1896) in Spruchbücher (Strafbücher)
einzutragen.
In Strafverhandlungen über schwere Fälle sind Protokolle aufzunehmen und
die Urteile schriftlich abzufassen, ebenso bei Zivilverhandlungen in
Deutsch
- Ostafrika, soweit Berufung zulässig ist. Bei Vollstreckung der Prügel-
und Rutenstrafe sind gewisse Formalitäten zu beachten (s. Prügelstrafe).
Durch Dienstanweisungen der Gouverneure sind auch sonst über die
Strafvollstreckung
nähere Bestimmungen erlassen (s. Strafvollzug). Soweit es an Vorschriften
fehlt,
werden (so z. B. auch im Konkursverfahren) seitens der mit der
Gerichtsbarkeit
betrauten Beamten tunlichst die Grundsätze der heimischen
Prozeßordnungen
entsprechend angewendet, im Verfahren vor den Häuptlingen und
Eingeborenengerichten
aber vielfach noch die hergebrachten Rechtssitten und Gebräuche
beobachtet.
Ein Instanzenzug fehlt im allgemeinen. Nur ausnahmsweise ist Berufung
zulässig, so in Deutsch - Ostafrika in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten,
wenn der Wert des Streitgegenstandes 1000 Rupien übersteigt. Die
Verhandlung
und Entscheidung darüber ist (durch GouvErl. vom 26. Mai 1898, KolGG.
Bd. 6 S. 155) dem Oberrichter übertragen, der hierbei die
Amtsbezeichnung
"Berufungsrichter(gericht) für Eingeborene" anzuwenden hat (GouvV. vom
9. Aug. 1904, KolGG. Bd. 8 S. 209). Ferner findet Berufung gegen die
Urteile
der Häuptlinge und Eingeborenen
Schiedsgerichte
in Kamerun statt (s. Berufung). Sonst besteht für die Parteien, die sich
durch ein Urteil beschwert fühlen, lediglich die Möglichkeit, im Wege
einer Verwaltungsbeschwerde den Gouverneur anzurufen, welcher nach der
in der Praxis maßgebenden Auffassung befugt ist, eine nochmalige
Verhandlung
der Angelegenheit anzuordnen, sowie Strafen
zu erlassen und zu mildern (also in Strafsachen eine Art
Begnadigungsrecht
auszuüben). Im übrigen wird in Strafsachen die Berufung dadurch ersetzt,
daß Urteile über schwerere Fälle, insbesondere wenn Todesstrafe verhängt ist, der Bestätigung des
Gouverneurs bedürfen, dem zu diesen Zwecke, unter Vorlegung der Akten,
Bericht zu erstatten ist (s. a. Strafverfahren). - Neben dem
ordentlichen
Verfahren in Strafsachen kennen die Vorschriften für die afrikanischen
Schutzgebiete noch ein Summarisches
Verfahren (s. d.), welches Platz greift, wenn im Falle eines
Aufruhrs
oder sonstigen Notstandes oder nach Erklärung des Kriegszustandes die
sofortige Vollstreckung der Todesstrafe ohne Einholung der Bestätigung
des Gouverneurs erforderlich erscheint. Alsdann sind, soweit ausführbar,
mindestens zwei weiße Beisitzer zu der Verhandlung hinzuzuziehen. Dem
Gouverneur ist nachträglich Bericht zu erstatten. - Auf dem Gebiete des
materiellen Strafrechts finden sich hauptsächlich Vorschriften über die
zulässigen Strafarten (Todesstrafe, Gefängnis mit Zwangsarbeit,
Geldstrafe, in den afrikanischen Kolonien außerdem Kettenstrafe, die dem heimischen Zuchthaus
entspricht,
und Körperliche
Züchtigung,
in Deutsch-Neuguinea
Zwangsarbeit
ohne Gefängnis). S.a. Strafen, Kettenstrafe, Prügelstrafe. In Deutsch-Neuguinea kann
durch
strafgerichtliches Urteil auch auf eine Entschädigung an den Verletzten
erkannt werden. Die Tatbestände der strafbaren Handlungen, sowie das
Höchst-
und Mindestmaß der Strafen sind im allgemeinen nicht festgelegt. (Eine
Ausnahme besteht für schwerere Strafen in Deutsch - Neuguinea; ferner
kommen die Strafandrohungen in polizeilichen und verwaltungsrechtlichen
Vorschriften in Betracht.) Im wesentlichen haben daher die Richter nach freiem Ermessen darüber zu befinden,
in welchen Fällen sie Bestrafung eintreten lassen wollen und welches
Strafmaß
sie anwenden wollen. In der Praxis werden soweit als möglich die
Vorschriften
des Strafgesetzbuchs zum Anhalt genommen. Die Rücksicht auf die
Anschauungen
der Eingeborenen, sowie die, besonderen Bedürfnisse der
Eingeborenenrechtspflege
erfordern es aber, daß vielfach auch Strafen wegen eines Tatbestandes
verhängt werden, der im Strafgesetzbuch nicht vorgesehen ist, z.B. wegen
Lügens vor Gericht, Ungehorsam gegen obrigkeitliche Anordnungen, gewisse
auf Aberglauben beruhende Gebräuche der Eingeborenen, wie z.B. Giftproben, Manipulationen der Zauberer u. dgl. mehr. - Zum Teil ist durch
Dienstanweisungen
der Gouverneure bestimmt, welche Handlungen als strafbar verfolgt werden
sollen (s.a. Strafrecht). -
Verhältnismäßig
die wenigsten Vorschriften finden sich auf dem Gebiete des bürgerlichen
Rechts. Zu erwähnen sind hier z.B. die Vorschriften über die Sklaverei,
die in den tropischen afrikanischen Schutzgebieten noch in der milden
Form der Haussklaverei geduldet
wird (s. Sklaverei), und die Vorschriften über das Eherecht, die für
einen Teil Deutsch - Neuguineas
in der GouvV. vom 5. Febr. 1904 (KolGG. Bd. 8 S. 41) erlassen sind (s.
Eherecht). Auch einzelne Vorschriften der Ksl. V.
vom 21. Nov. 1902, betr.
die Rechte an Grundstücken (s. Grundeigentum),
sowie die §§ 2 der Bergverordnungen vom 8. Aug. 1905 und 27. Febr. 1906
(RGBl. S. 727 bzw. 363 [s. Bergrecht])
kommen in Betracht. Soweit es an Vorschriften fehlt, werden die
Entscheidungen
zum Teil unter Heranziehung der Bestimmungen des heimischen Rechts,
insbesondere
des BGB., zum Teil auf Grund allgemein rechtlicher Erwägungen unter
tunlichster
Berücksichtigung des Parteiwillens getroffen, in erster Linie aber die
Rechtsgewohnheiten der Eingeborenen berücksichtigt. Naturgemäß kann
dies,
entsprechend den ethischen und politischen Aufgaben der
Eingeborenenrechtspflege,
welche auch erziehend wirken soll, nur so weit geschehen, als diese
Rechtsgewohnheiten
nicht, vom Standpunkte einer Kulturnation aus beurteilt, gegen die
gesunde
Vernunft und die guten Sitten verstoßen (vgl. Erl. des AAKA. vom 15.
Jan.
1907, KolGG. Bd. 11 S. 54). Vor allem wird den Rechtsanschauungen der
Eingeborenen im Erbrecht, Ehe- und Familienrecht Rechnung
getragen.
Neben dem angestammten Recht der eingeborenen Volksstämme kommt,
namentlich
in Deutsch-Ostafrika, noch das islamitische (arabische) Recht für die
Araber und die sonst zum Mohammedanismus sich bekennenden
Bevölkerungselemente
zur Anwendung (s. Scheria). Vereinzelt
findet sich auch geschriebenes Recht. Vgl. insbesondere das in den Kol.
Monatsbl. 1913, S. 217 abgedruckte Rechtsbuch der Rehobother Bastards. - Da sich aus dem Fehlen fester
Rechtsnormen
für nicht juristisch geschulte Beamte anfänglich gewisse Schwierigkeiten zu ergeben
pflegen und eine genaue, Kenntnis der Rechtsgewohnheiten der Eingeborenen
nicht
leicht zu erwerben ist, ist mehrfach die Forderung einer Kodilikation
des Eingeborenenrechts erhoben worden. Die Verwaltung hat sich gegen diese Forderung bisher
ablehnend verhalten, da hierbei die Gefahr verhängnisvoller Mißgriffe
naheliegt und außerdem eine gesetzliche Festlegung der natürlichen
Weiterentwicklung
des Rechts der Eingeborenen vorgreifen würde, deren Rechtssitten durch
das Vordringen der Kultur eine allmähliche, im kolonisatorischen
Interesse
nur erwünschte Wandlung erfahren. Dagegen ist einmal für eine bessere
Vorbildung der Verwaltungsbeamten für ihren späteren Beruf als
Eingeborenenrichter
Sorge getragen worden (durch entsprechende Ausbildung auf dem
Orientalischen
Seminar in Berlin oder dem Kolonialinstitut
in Hamburg), und sodann hat die Verwaltung es sich angelegen sein
lassen,
die Feststellung der Rechtsgewohnheiten der Eingeborenen zu fördern. So
ist namentlich neuerdings eine aus Reichstagsmitgliedern und
hervorragenden
Gelehrten bestehende Kommission
zur Erforschung des Eingeborenenrechts eingesetzt worden, die
zunächst
einen in zahlreichen Exemplaren nach den Schutzgebieten versandten
Fragebogen
ausgearbeitet hat und jetzt damit beschäftigt ist, die eingegangenen
Antworten
systematisch zu verarbeiten. Die Sammlung der Rechtsgewohnheiten der
Eingeborenen
entspricht im übrigen nicht nur einem praktischen Bedürfnis der
Eingeborenenrechtspflege,
sie interessiert auch wissenschaftlich (für die Ethnologie, vergleichende Rechtswissenschaft
usw.).
Gewisse Einrichtungen und Gebräuche, die bei den Eingeborenen der
deutschen
Schutzgebiete anzutreffen sind, wie z.B. Totemismus, Kollektiveigentum (des Stammes, der
Sippe), Familienkommunismus (s. Kommunismus), Mutterrecht (s.d.), Gruppenehe, Vielweiberei, Raub- und Kaufehe (s. Ehe), Verlobtenscheu, Tobiasnächte
(Verbot
des Umganges der ehelich Verbundenen für eine bestimmte Zeit),
Leviratsrecht
(Vererbung der Frau [s. Erbrecht der Eingeborenen]),
Jünglingsweihe
(s. Pubertätsfeste), Beschneidung (s.d.), Tabu (Unnahbarerklärung
von Gegenständen durch Priester, z.B.
von Fruchtbäumen, um gegen eine drohende Hungersnot Vorsorge zu treffen,
namentlich auf den Südseeinseln üblich), Blutsbrüderschaft (s. Blutsfreundschaft), Klubschaften (s. Männerbünde), Geheimbünde (s.d., zu Zwecken der
Rechtsverfolgung),
Gottesurteile (s.d.) und Zaubertrank (als Beweismittel), Blutrache (s.d.), Wergeld (s.d.) u. dgl. in., finden sich auch bei
anderen primitiven Völkerschaften, so daß die Arbeiten der Kommission,
lehrreiche Vergleiche und Rückschlüsse ermöglichen werden. (Entsprechend
der oben erwähnten grundsätzlichen Stellungnahme zu den
Gewohnheitsrechten
der Eingeborenen erkonnt selbstverständlich die Praxis diese Gebräuche,
soweit sie unvernünftig erscheinen, nicht an oder sucht sie gar durch
Bestrafungen auszurotten. Auch haben sich viele der alten Rechtssitten
überlebt, oder ihre ursprüngliche Bedeutung hat sich verwischt, so daß
sich die Eingeborenen über den Sinn mancher Gepflogenheiten selbst nicht
mehr klar sind. Für die Beamten ist aber nichtsdestoweniger eine
vollständige
Kenntnis und systematische Erforschung der Stammesrechte
der Eingeborenen auf wissenschaftlicher Grundlage von Wert, da sie nur
so ihr Rechtsleben in seinen einzelnen Erscheinungen richtig verstehen
und beurteilen lernen.) S. a. Rechtsanschauungen der Eingeborenen, sowie
Sippen, Verwandtschaft, Religionen der Eingeborenen.
- Von der Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen pflegt noch
unterschieden
zu werden die Ausübung der Disziplinargewalt und dementsprechend von
dem Strafrecht das Disziplinarstrafrecht. Nach § 17 der V. des RK. vom,
22. April 1896 können Eingeborene,
die in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis stehen, auf Antrag der
Dienst-
oder Arbeitgeber wegen fortgesetzter Pflichtverletzung und Trägheit,
wegen
Widersetzlichkeit oder unbegründeten Verlassens ihrer Dienst- oder
Arbeitsstellen,
sowie wegen sonstiger erheblicher Verletzungen des Dienst- oder
Arbeitsverhältnisses
von den mit Ausübung der Strafgerichtsbarkeit betrauten Beamten
disziplinarisch
mit körperlicher Züchtigung, und in Verbindung mit dieser Strafe oder
allein mit Kettenhaft nicht über 14 Tage bestraft werden. Entsprechendes
gilt nach der GouvV. vom 20. Juni 1900 (KolGG. Bd. 6 S. 248, abgeändert
durch V. vom 22. Jan. 1907, KolGG. Bd. 11 S. 61) für Deutsch -
Neuguinea.
Als Disziplinarstrafe ist auch hier (die als gerichtliche Strafe nicht
statthafte) körperliche Züchtigung (Prügelstrafe, Rutenstrafe), ferner
Einsperrung mit oder ohne Anschließung in abgesonderten Räumen (bis zu
3 Tagen) und Geldstrafe (bis 30 M) zulässig.
4. E. in Kiautschou. In Kiautschou ist auf Grund einer Ermächtigung des RK.
(V. vom 27. April 1898, MVBl. S. 151, KolGG. Bd. 4 S. 167), gemäß der Ksl. V.
vom 27. April 1898 (RGBl. S. 173) die Chinesenrechtspflege durch eine V. des
Gouv. vom 15. April 1899 (MVBl. S. XXV; KolGG. Bd. 4 S. 191) geregelt. Die
Regelung ist umfassender als diejenige in den afrikanischen und
Südseeschutzgebieten und weist gegenüber den für diese erlassenen Vorschriften
eine Reihe nicht unwesentlicher Abweichungen auf. Zur Ausübung der
Gerichtsbarkeit über die Chinesen sind dort besondere Beamte mit der Bezeichnung
"Bezirksamtmänner" eingesetzt. Für wichtigere Sachen ist der Ksl. Richter
zuständig. Gegen die Urteile der Bezirksamtmänner ist, wenn auf höhere Strafe
erkannt ist als Freiheitsstrafe von sechs Wochen oder Geldstrafe von 250 Dollar
bzw. in Zivilsachen, wenn der Wert des Streitgegenstandes 150 Dollar übersteigt,
Berufung an den Ksl. Richter zulässig.
Todesurteile bedürfen der Bestätigung des Gouverneurs. Das Verfahren ist auch in
Kiautschou im allgemeinen formlos. Doch ist z. B. vorgeschrieben, welche
Beweismittel zulässig sind und welche Förmlichkeiten bei Einlegung der Berufung
zu beachten sind. Über Vereidigung von Nichtchinesen als Zeugen entscheidet der
richterliche Beamte nach seinem Ermessen. Der Kreis der strafbaren Handlungen
ist fest umgrenzt (es muß ein Verstoß gegen Verordnungen oder reichsgesetzliche
Strafbestimmungen des näher bezeichneten Inhalts vorliegen oder die Handlung muß
im chinesischen Reich mit Strafe belegt sein). Zulässige Strafen sind
Prügelstrafe bis 100 Schlägen, Geldstrafe bis 5000 Dollar, zeitige
Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren, lebenslängliche Freiheitsstrafe und
Todesstrafe. Die Freiheitsstrafe kann mit Zwangsarbeit verbunden werden. Den
Entscheidungen in Zivilsachen ist das örtliche Gewohnheitsrecht zugrunde zu legen.
Bemerkenswert ist, daß, entsprechend einer chinesischen Rechtsanschauung für
Handlungen jugendlicher Personen auch der Vater, ältere Bruder, Vormund oder
diejenige Person zu einer Strafe verurteilt werden können, deren Obhut der
jugendliche Verbrecher anvertraut ist. Ferner kann im Zivilprozeß gegen einen abgewiesenen Kläger
eine Geldstrafe bis zur Höhe des Wertes des Streitgegenstandes verhängt werden,
wenn die Abweisung erfolgt ist, weil die von ihm behaupteten Tatsachen sich als
unwahr herausgestellt haben. An Stelle der Geldstrafe tritt im
Nichtbeitreibungsfalle Freiheitsstrafe. - Chinesen, die in einem Dienst- oder
Arbeitsverhältnis stehen, können nach der V. des Gouv. vom 1. Juli 1898 (Amtsbl.
1900 S. 57, KolGG. Bd. 5 S. 192) wegen erheblicher Verletzungen ihrer
vertragsmäßigen Pflichten oder Verleitung anderer zu solchen mit Geldstrafe bis
zur halben Höhe des Monatslohns, körperlicher Züchtigung bis zu 50 Hieben und,
in Verbindung mit diesen Strafen oder allein, mit Freiheitsstrafen nicht über 21 Tage
bestraft werden. Zur Verhängung der Strafen ist der zuständige Bezirksamtmann befugt.
Literatur: Die unter "Kolonialrecht" erwähnten Werke von
Gerstmeyer, Edler v. Hoffmann, Köbner,
Mallmann, Frhr. v. Stengel. - Zahlreiche
Abhandlungen von Bauer, Friedrich, Herrmann,
Schreiber usw. in MolPol., Kol. Monatsbl., Kol. Rundschau, D. Kol. - Ztg.
Brinkmann, Strafrecht u. Strafverfahren
für die Eingeborenen d. deutsch. Schutzgeb. Borna Lpz. 1904. - Karlowa,
Strafgerichtsbarkeit über die Eingeborenen usw. (Diss.). Borna - Lpz. 1911. -
Karstedt, Beiträge zur Praxis der Eingeborenenrechtsprechung in D. - O. Daressalam 1912. - Meyer, Felix, Bedeutung des Rechts der
Eingeborenen im Jahrbuch der Intern. Vereinigung für vergl. Rechtswissenschaft
1903, 489, und Verhandlungen des Kolonialkongresses 1902, 377 (auch 1905,
571). - Peters, Begriff, staatsrechtliche Stellung usw. der Eingeborenen in d.
deutschen Schutzgebieten (Diss.). Gött. 1906. -Ziegler, Eingeborenenstrafrecht
in d. deutsch. Schutzgeb. in Mitt. der Intern. Vereinigung 1904, 645. - S. auch
in betreff der Rechtssitten der Eingeborenen die Literatur unter
"Rechtsanschauungen der Eingeborenen". Vgl. hierzu ferner noch: Meyer, Felix,
Wirtschalt und Recht der Herero. Berl. 1905. Sachau, Mohammedanisches Erbrecht in Ostafrika, Sitz.-Ber. der Akademie der Wissensch.
1894. - Schultz, Samoanisches Familien- und
Erbrecht. Apia 1905. -Velten, Sitten der Suaheli. Gött. 1903. - Vorträge von Thurnwald und
Gerstmeyer. (betr. Fragebogen der Kommission zur Erforschung des
Eingeborenenrechts) in Verhandl. der 1. Hauptversammlung der Intern. Verein. f.
vergl. Rechtswissenschaft. Heidelberg 1912.
Gerstmeyer.
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